Musikgespräche

Hör mal (wieder)…  - "Candide" von Leonard Bernstein

Hörtipp Nr. 7 von Richie von SINFONIMA

Eine „Liebeserklärung an die europäische Musik“ und damit eigentlich kein amerikanisches Musical, sondern eine europäische Operette mit massiven opernhaften Ansprüchen an die Sänger.

Dieser hinreißende „Tango der alten Lady“ („I am easily assimilated“), mit dem stets Ovationen des Publikums ausgelöst werden, ist einem Stück entnommen, dessen Entstehungs- und Aufführungsgeschichte genauso verwickelt ist, wie etwa die von Offenbach „Hoffmanns Erzählungen“. Im Gegensatz zu Offenbach aber konnte Bernstein sein Werk selbst vollenden und in einer endgültigen Fassung von 1988 noch vor seinem Tod (1990) selbst mehrfach aufführen und auch aufnehmen.

(ML: Leonard Bernstein, Old Lady: Christa Ludwig)

„Candide“ ist nach Bernsteins eigenen Worten eine „Liebeserklärung an die europäische Musik“ und damit eigentlich kein amerikanisches Musical, sondern eine europäische Operette mit allerdings massiven opernhaften Ansprüchen an die Sänger (vgl. etwa Cunegondes/Kunigundes halsbrecherische Koloratur-Arie „Glitter and be gay“ June Anderson, Sopran, in der gleichen Aufführung, der der Tango entnommen ist).

Allen, die von Reisebeschränkungen betroffen waren und/oder sind, kann dieses Stück nur wärmstens empfohlen werden, denn die Schauplätze der Handlung sind (ein fiktives) Westfalen, Lissabon, Paris, Spanien, Cartagena (Kolumbien)Montevideo, der südamerikanische Dschungel, das fiktive EldoradoKonstantinopel und eine verlassene Insel zur Zeit Voltaires, also um die Mitte des 18. Jahrhunderts.

Grundlage der Handlung ist Voltaires beißende Satire Candide oder Die beste der Welten“ von 1759. In dieser rechnet er mit der in seiner Zeit herrschenden, optimistischen Philosophie vom Bild der angeblich besten aller Welten ab. Pessimistisch stellt er diesem Bild das diese Welt ständig bedrohende - und dann auch eintretende - Übel gegenüber.

Dementsprechend abwechslungsreich sind die Schicksale der handelnden Personen: Allen voran von Candide und seiner Geliebten Cunegonde/Kunigunde, und damit auch die nahezu unerschöpflichen Möglichkeiten für dichterische und musikalische Einfälle, die das Genie Bernstein und seine kongenialen Mitautoren weidlich auskosten.

In der von ihm selbst geleiteten konzertanten Aufführung (London, 13.12.1989), auf die sich der obige Videolink bezieht, kann man nachvollziehen, wie persönlich Bernstein auch als Textdichter an diesem Stück mitgewirkt hat.
Die alte Lady beginnt den Tango mit den Worten „I was not born in sunny Hispania. My father came from Rovno Gubernya“ und in der oben verlinkten Aufnahme winkt die großartige Christa Ludwig bei der Nennung dieser ukrainischen Stadt (dem heutigen Riwne) Bernstein zu. Der hatte zuvor dem Publikum der Aufführung mitgeteilt, dass sein (!) Vater aus dieser Stadt in der Ukraine stammte und er sie deshalb im Text unterbringen wollte. Das hatte dann allerdings zunächst schlaflose Nächte für ihn zur Folge, weil er im weiteren Verlauf für den Chor einen Reim auf diesen Städtenamen benötigte, aber nicht finden konnte. Die Lösung lieferte ihm schließlich seine infolge seiner nächtlichen Unruhe aufgewachte Frau Felicia mit dem spanischen Ausspruch „Me muero, me sale una hernia!“ (Ich sterbe, ich habe eine Leistenbruch!“). Damit sei die gemeinsame Nachtruhe dann gerettet gewesen. Dass der Reim für den Tango und das Stück eigentlich gar nicht sinnvoll ist, war dabei offensichtlich nicht weiter von Bedeutung. Es spielt bei der verrückten Handlung des gesamten Stücks auch weiter keine Rolle, sondern unterstreicht einmal mehr den satirischen Charakter. (Der Mitschnitt dieser legendären Aufführung ist übrigens auf DVD erhältlich.)

Es gibt darüber hinaus in „Candide“ so unendlich viele musikalische und textliche Feinheiten zu entdecken, dass ich euch wirklich nur empfehlen kann, mit Candide und seiner Kunigunde auf die abwechslungsreiche und lohnenswerte Reise zu gehen. Die Ouvertüre zu „Candide“ war übrigens Ende Juni auch die Zugabe im Waldbühnenkonzert der Berliner Philharmoniker.

 


Euer Richie 

 

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