Ratgeber

Lampenfieber, Talent und sinnvolles Üben

Was ist Lampenfieber, wie entsteht es? Und wie verfliegt es? Schützt einen genügend Talent oder hängt die Angstbewältigung mit sinnvollem Üben zusammen? Haiko Heinz vom Musikportal Bonedo klärt diese Fragen im Interview mit Prof. Dr. Andreas C. Lehmann.
Wer mehr zum Thema Musikermedizin - körperliche und mentale Aspekte des Musikerlebens erfahren möchte:
Hier gibt es ein zweites Interview von Haiko Heinz. 

Haiko Heinz im Interview mit Prof. Dr. Andreas C. Lehmann, Professor für systematische Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik in Würzburg und Vizepräsident der deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie.
Wir Musiker sind in der Regel mit unserem Instrument beschäftigt, wir komponieren, texten oder arrangieren oder schrauben an unserem Equipment und vergessen dabei vollkommen, dass unser Körper und unser Geist eigentlich eine Gesamtheit bilden, bei der die verschiedenen Mechanismen im Idealfall optimal ineinandergreifen. Will man bestmögliche Ergebnisse erzielen, sollte allerdings jeder Dreh an einer der zahlreichen Stellschrauben gut durchdacht sein. Leider kommen im Alltag die Themen, die auf ihrem Orbit etwas weiter von unserem Instrument entfernt kreisen, oft genug zu kurz. Anlass genug, das Gespräch mit einem Experten zu suchen, um endlich all die Fragen zu stellen, die mich schon lange umtreiben und die ich bereits mit vielen Musikerkollegen diskutieren durfte.

Herr Prof. Dr. Lehmann, was ist Lampenfieber und was passiert da im Gehirn und wie sind die körperlichen Auswirkungen?
Im Grunde haben wir den Parasympathikus, das vegetative Nervensystem, das sich mit dem Zur-Ruhe-kommen befasst und den Sympathikus, das anregende Nervensystem, das für Flucht und Kampf zuständig ist. Das sympathische Nervensystem bereitet unseren Körper auf stressvolle Situationen vor. Das hatte evolutionär sicher seinen Nutzen, aber birgt natürlich einen Nachteil, wenn wir in einer Situation wie einer Aufführung sind, dort Leute vor uns haben und unser Körper eigentlich darauf eingestellt ist, diese Leute anzugreifen oder vor ihnen wegzurennen. Die typischen Symptome sind schweißige Hände, Zittern, weiche Knie etc.
Die Evaluationssituation (Bewertungssituation), vor anderen zu spielen, hat natürlich auch eine kognitive Belastung zur Folge. Kognitive Mechanismen treten in Kraft wie "Schaffe ich das wohl?", "Hoffentlich vertue ich mich nicht", "Komme ich gut rüber?" wodurch auch die Aufmerksamkeit eingeengt wird und man nicht mehr so viele Kapazitäten zur Verfügung hat, sich auf das zu konzentrieren, auf was man sich konzentrieren muss. Das heißt, man besitzt nicht mehr so viele Ressourcen, um sich auf das Spiel zu konzentrieren und darum wird die Performance auch schlechter.

Das heißt, man muss sich Reserven schaffen, damit noch genug Luft da ist, wenn etwas abgezogen wird?
Ganz genau! Man muss seine ganzen Spielhandlungen überlernen, sodass sie auch unter geringerer kognitiver Leistungsfähigkeit aufrechterhalten werden können.
Warum ist es so, dass bei Lampenfieber eher ein motorisches Lähmungsgefühl die Konsequenz ist, wenn der Körper sich doch eigentlich durch Adrenalin auf eine höhere Leistung vorbereitet?
Diejenigen Muskeln werden auf Spannung gestellt, die man für Angriff oder Flucht bräuchte. Diese Spannung ist im System angelegt, wohingegen der Parasympathikus die Entspannung bringen würde. Adrenalin und Stresshormone führen zu einer Steifigkeit, die die Feinmotorik blockieren kann.

Ist Lampenfieber per se etwas Schlechtes?
Nein, Lampenfieber ist unter Menschen normal verteilt, das heißt, es handelt sich um eine glockenförmige Verteilung. Jeder hat Lampenfieber, die Frage ist, wie viel? Es gibt Menschen, die wenig oder nur eine leichte Nervosität haben und damit auf der linken Seite der Glocke beheimatet sind. Die mit extremem Lampenfieber haben wir auf der rechten Seite, was bei einer Normverteilung im Bereich von 2% bis 5% liegt, das meiste spielt sich um den Mittelwert ab. Diejenigen, bei denen die Symptome extrem sind und die wirklich alles abgeklärt und richtig geübt haben, muss man sich dann auch die Frage stellen, ob Konzerte und Aufführungen der richtige Job für sie sind, oder ob sie nicht in einem anderen musikalischen Bereich tätig werden sollten wie z.B. Unterrichten.
Aber Lampenfieber ist auch unabhängig von der Expertise. Man spricht von Fällen wie Barbara Streisand oder Michel Petrucciani, die sehr nervös bei Auftritten waren.
Richtig, das ist unabhängig von der Spielexpertise und ist sicherlich auch in der Persönlichkeit angelegt. Durch Übung des Auftritts wird dieses Gefühl natürlich auch besser, weil man die Erfahrung macht: Ich kann das und werde damit fertig. Man hat diesen Sachverhalt bei professionellen Fallschirmspringern erforscht. Bei Erfahrenen stellt sich der Angstgipfel vor der Handlung ein, sodass zum Zeitpunkt der Ausführung kaum noch Nervosität vorhanden ist. Das heißt, die Maximalangst wird quasi vorverlegt, wohingegen bei Laien die Maximalangst während der Performance selbst auftritt.

Kann es ein, dass Musiker sich stärker über ihre Leistung definieren als das in anderen Berufsgruppen der Fall ist und dadurch das Phänomen Lampenfieber hier auch stärker auftritt?
Vor allem klassische Musiker sind sehr fehlerfokussiert. Ich denke, Rock/Popmusiker und Jazzer können im Rahmen der Kreativität den Fehler auch als positiv erleben oder als "hat stattgefunden, kann man mit leben". Das findet man bei Klassikern eher selten, da sie sehr perfektionistisch sind und der Druck sehr hoch ist, gerade dann nichts zu vergessen, wenn auswendig gespielt wird. Und anders als in anderen Musiksparten kann der Mitmusiker auch nicht zuflüstern: "Bridge!". Hat man einen Teil vergessen, dann ist er vergessen und man kommt in Teufels Küche. Hier sind auch die Erwartungen des Publikums hoch, was die notengetreue Wiedergabe anbelangt und vor allem die eigene Erwartungshaltung. Ich versuche Studenten immer dazu zu animieren, diese Haltung etwas herunterzufahren, da viele unter der Fehlwahrnehmung leiden, das Publikum würde auch auf die Fehler hören. Das Publikum möchte jedoch etwas "erleben", wenn sie einen Musiker sehen, sie möchten angerührt werden und ein Live-Erlebnis genießen. Ob da drei falsche Töne dabei sind, interessiert das Publikum nicht.

Wobei wir jetzt davon ausgehen, dass das Publikum nicht primär aus Musikern besteht. Aber welche Strategie schlagen Sie vor, wenn man vor einem Fachpublikum, seien es Musikkritiker, andere Musiker etc. vortragen muss?
Ich denke, zum einen wird man zwar sein Bestes geben, aber man sollte auch nicht das Material spielen, das an der Obergrenze des eigene Könnens liegt, sondern sich etwas Luft verschaffen. Auf der anderen Seite spielt man natürlich vor einem Fachpublikum häufig, wenn man auch gut ist oder das zumindest von sich denkt. Profis sollten so etwas aushalten, sonst sind sie im falschen Beruf und das sollte auch jeder Musiker für sich frühestmöglich erkennen. Das ist die Frage: "Wie wird ein Rennfahrer mit der Angst fertig, auf dem Nürburgring zu fahren?".

Wie stehen sie zu Medikamenten wie z.B. Betablocker gegen Lampenfieber?
Von Hilfsmitteln wie Alkohol, Drogen und Medikamenten ist tendenziell abzuraten, da sie vielleicht kurzfristig helfen können, aber langfristig keine gute Grundlage bilden. Viele Musiker nehmen auch Mittel, obwohl sie es vielleicht gar nicht bräuchten. Das Phänomen ist, dass man eine physiologische Angst hat (die sich in Körpersymptome äußert) und danach stellt sich eine kognitive Angst ein aufgrund der Symptome. d.h. zur Angst gesellt sich die Angst vor der Angst. Wenn man nun Medikamente nimmt, die die körperlichen Symptome lindern, stellt sich der Gedankenprozess ein: "Ich zittere ja gar nicht, also habe ich offensichtlich auch keine Angst?"

Gibt es Möglichkeiten professioneller, therapeutischer Hilfe?
Definitiv gibt es da Therapieformen und wenn man das Problem bei sich erkennt, sollte man auch keine Scheu davor haben, diese in Anspruch zu nehmen.
Inwieweit können Eltern und Lehrer Einfluss auf das Lampenfieber ihrer Kinder/Schüler haben?
Manche Lehrer bereiten ihre Schüler nicht auf den Auftritt vor. Der Auftritt muss dazugehören und Normalität sein und eben nicht das Besondere. Lehrer sollten den Auftritt üben und jede Stunde wie ein Konzert gestalten: "So, ich bin jetzt das Publikum, spiel doch mal vor, was du geübt hast!". Wenn man diese Simulation immer wieder macht, nimmt man den Schülern vieles von der Angst.

Für Eltern gilt das das Gleiche. Wenn Eltern nach dem Vorspiel sagen:
"Na, da waren aber ein paar Fehler!", anstatt:
E: "Das hast du toll gemacht"
S: "Ich habe mich aber verspielt"
E: "Na und? Das gehört dazu, alle machen Fehler, selbst die Profis!"
Eltern sind im Idealfall die Surrogatlehrer, die den verlängerten Arm des Instrumentallehrers darstellen.

Das heißt, die "preußische" Erziehungsmethode, die vor ein paar Generationen geherrscht hat, ist eher kontraproduktiv?
Würde ich sagen, wobei Druck natürlich kurzfristig immer funktioniert. Je höher der Druck, desto höher die Leistung. Die Frage ist nur, mit welchen Konsequenzen und zu welchem Preis! Weltrekorde im Sport werden natürlich nicht mit Kuschelpädagogik aufgestellt, sondern mit knallhartem Training. Das ist im Instrumentalbereich natürlich genauso: Wenn man hoch hinaus will, braucht man ausgezeichnete Lehrer, und die haben unterschiedliche Methoden.

Das heißt, eine gesunde Form von Druck ist notwendig?
Sagen wir mal so: Ich wüsste nicht, wer nur mit einer großen Freiwilligkeit und Ermunterung oben hingekommen ist. Und wenn der Druck nicht von außen gekommen ist, haben sich die Spitzenleister den Druck selbst gemacht.
Zurück zum Lampenfieber. Wie bereite ich mich auf Passagen vor, bei denen ich die Befürchtung habe, dass sie höchstwahrscheinlich schief gehen beim Auftritt?
Also die Idee, dass sie höchstwahrscheinlich schief gehen, ist schon mal falsch. Ganz am Anfang sollte man eine gute Diagnostik machen: "Was ist überhaupt das Problem?" und vielleicht auch jemanden fragen, der erfahrener ist und ihn bitten, sich das Stück anzuschauen. Man muss die Passage in ihre Einzelteile zerlegen, um zu sehen, wo das Problem ist. Häufig ist es so, dass die Hände etwas schon können, der Kopf es aber noch nicht verstanden hat und in einer Stresssituation fragt sich dann ein Tausendfüßler, welches Bein hebe ich jetzt zuerst? Dann ist eine andere Situation als beim Üben vorhanden und dann scheitert man.

Das heißt, auch mal eine Passage ohne Instrument mental, nur im Kopf durchspielen, visualisieren und vor dem inneren Ohr hören?
Genau! Man muss ganz genau verstehen, was man macht, denn nur, was man mit dem Kopf verstanden hat, kann man mit den Fingern steuern, denn die Hände haben selber keine Intelligenz. Es gibt zwar etwas, dass man "Fingergedächtnis" oder "motorisches Gedächtnis" nennt, aber - und das wissen die Klassiker am Besten - das motorische Gedächtnis kommt zwar schnell, ist aber fatal, denn es reicht nicht unter Belastung. Das stellen viel junge Künstler dann auch fest: Was zu Hause klappt, funktioniert beim Vorspiel nicht mehr, weil man das Stück verstanden haben muss.
Man muss eine Passage im Prinzip zweimal auswendig lernen. Das erste Mal kommt mehr oder weniger von alleine, wenn man das Stück häufig spielt, aber dann muss man es noch einmal zerbrechen, um es durchdrungen zu haben, sonst ist es für die Bühne nicht tauglich.

Macht es Sinn, sich beim Üben bereits in eine auftrittsähnliche Situation zu begeben? Das heißt, Eltern, Freunde etc einladen und eventuell auch in der Sitz/Steh-Haltung des Auftritts zu üben, z.B. bei Gitarristen oder Sängern?
Definitiv. Wir üben nicht nur die Noten, wir üben die Situation, die Gefühle und Sinneseindrücke. Unser Gedächtnis ist kontextabhängig. Alles, was wir beim Üben tun, üben wir mit ein. Sehr übertrieben formuliert: Wenn es beim Üben immer nach Kaffee riecht und beim Auftritt nach Sauerbraten, spiele ich womöglich schlechter, weil der Kaffeegeruch zum Üben dazugehört. Je ähnlicher also der Auftritt der Übung ist, desto leichter wird das Lernergebnis transferieren.
Man sollte auch in den Auftrittsklamotten üben! Das wird besonders die Damen interessieren, die meist in Alltagskleidung üben und beim Auftritt womöglich ein Kleid und hohe Schuhe tragen - und schon stimmt das Körpergefühl nicht mehr mit dem Übegefühl überein.

Gibt es auch so etwas wie "partielles" Lampenfieber? Mir beispielsweise bereitet der Auftritt kein Problem, aber ich habe jedes Mal Angst vor solistischen Passagen.
Ich weiß, das viele klassische Musiker Angst vor bestimmten Stellen haben. Aber meistens sind solche Stellen auch so über-übt, dass die Fehler eher da passieren, wo Passagen auf "Autopilot" sind und man noch nie darüber nachgedacht hat. Dann spielt man diesen Part und fragt sich" Was mache ich eigentlich?" und fliegt aus der Kurve.
In dem anderen Fall kann man sich an die Aufregung in solistischen Passagen langsam herantasten, indem man z.B. den Bassisten bittet, anfangs mitzuspielen und nach und nach zu reduzieren.
Aber das ist auch ein Indiz dafür, dass Lampenfieber nicht das wirkliche Problem ist, sondern nur eine bestimmte Situation, die man durch Routine ausmerzen kann.

Kommen wir nun zum Thema Üben und Talent. Wie ist momentan der Stand der Wissenschaft? Gibt es so etwas wie "Talent" oder ist der Begriff nur Synonym für eine frühkindliche Prägung?
Da herrschen einige Kontroversen. Das Problem ist, dass man Talent, wenn man es als genetische Disposition betrachten will, unentwickelt quasi nicht messen kann. Man findet natürlich bei musikalischen Hochleistern gewisse genetische Marker, die besonders günstig sind, wie z.B. eine gute auditive Verarbeitung, aber das ist schon relativ unspezifisch. Eine gute Verarbeitung auditiver Reize im Gehirn sollte man bei Musikern aber auch erwarten. Warum jedoch ein Musiker besser ist als der andere, kann man nicht auf eine so einfache Formel zurückführen.
Wir verwenden im Grunde den Begriff Talent als Erklärung diverser Unterschiede, die häufig auch deutlich andere Ursachen haben. Von daher kann ich zur Existenz oder Nichtexistenz von Talent wenig sagen. Was ich jedoch sagen kann ist, dass das, was wir in der Wissenschaft über das Üben wissen, so deutlich ist, dass es mehr Sinn macht, sich darauf zu konzentrieren. Das heißt, es ist wesentlich zielführender, sich Gedanken darüber zu machen, ob ich den richtigen Lehrer habe und sinnvoll und konzentriert übe, als über mein Talent.

Ist Talent demnach überhaupt ein Begriff, der in der Musikwissenschaft eine Rolle spielt?
Historisch gewachsen bestimmt und da ist er auch sehr wichtig, da vor allem im 19. Jahrhundert die Idee des "Genies" mit dem mystischen oder göttlichen Funken oder der göttlichen Gabe verknüpft war und hochstilisiert wurde. Das hat natürlich auch in der europäischen Philosophie eine tragende Rolle gespielt. Die Amerikaner sind da wesentlich, nennen wir es, pragmatischer. Da gilt "from rags to riches" - "vom Tellerwäscher zum Millionär". Da schlägt eher die protestantische Arbeitsethik durch: Wenn du genug tust, dann erreichst du auch etwas.
Und man muss auch sagen, dass eine zielgerichtete Übung (Anm.: "deliberate practice" - dazu später mehr!) sehr starke Vorhersagen auf die Leistung hat. Es gibt einen sehr starken, schon fast linearen Zusammenhang zwischen Übung und Leistung - je mehr, desto mehr! Und das ist sicherlich viel stärker als alles, was man zum Thema "Talent" finden kann. Zumindest ist das der aktuelle Stand, ob das später mal anders sein wird, bleibt abzuwarten.
Man muss natürlich auch unterscheiden: Reden wir von Spitzenleistern oder nicht. Im unteren Leistungssegment sind sicherlich Dispositionen und andere Lernerfahrungen viel wichtiger. Nur um eine Analogie zu bilden: Betrachten wir einen kleinen Karton von 30 cm Höhe und wollen über diesen Karton springen, so gibt es sicherlich viele Methoden, wie ich das bewerkstelligen kann: vorwärts, rückwärts, seitwärts, mit Salto etc. Liegt vor uns allerdings eine Latte in zwei Metern Höhe, haben wir schon weniger Möglichkeiten zur Auswahl - da geht's vielleicht noch mit dem Fosbury Flop (Anm. d. Red.: eine optimierte Hochsprungtechnik nach Dick Fosbury), aber vorwärts schon nicht mehr.
Das heißt, auf unteren Leistungniveaus gibt es unzählige Erklärungsmodelle, warum manche Kinder etwas schneller machen als andere, und dort ist Übung und Leistung sicher nicht so stark korreliert wie am oberen Leistungsende. So hat z.B. ein Kind, das viel auf der Computertastatur daddelt, möglicherweise einen besseren Transfer zur Klaviertastatur als ein Kind, das das nicht macht. Wenn ich jedoch Profipianisten betrachte, dann ist die Gleichmäßigkeit, mit der sie beispielsweise Tonleitern spielen, direkt aus der Übung vorhersagbar von einem Zeitpunkt zum anderen- je mehr, desto gleichmäßiger. Das ist aber das obere Leistungsende.

Das heißt, je höher das Niveau, desto weniger Wege führen nach Rom?
Genau, oder anders ausgedrückt: Je niedriger das Niveau, desto mehr sind angeborene Dispositionen entscheidender. Nehmen wir zwei Kinder, die in ein Mundstück blasen, bei einem kommt sofort ein Ton, beim anderen nicht - ist das Talent, Zufall? Keine Ahnung!

Im Klartext: Es gibt keine wirklichen Studien, die die Existenz von musikalischem Talent als genetische Disposition belegen?
Nein, gibt es so nicht. Es ist auf jeden Fall nicht so, dass man Übung mit Talent kompensieren könnte. Angeblich talentierte Musiker müssen definitiv nicht weniger üben als angeblich weniger talentierte.

Zum Abschluss noch eine Frage: Was genau ist "deliberate practice"?
Im Grunde verbirgt sich hinter diesem Begriff das zielgerichtete Üben. Was immer mein Ziel ist, dazu muss mein Üben passen. Für alles, was ich übe, sei es Improvisation, Skalen, Rhythmus etc, gibt es eine spezifische "deliberate practice".
Im besten Fall steht dann die in diese Übung investierte auch in einer vorhersagbaren Relation zur Leistung. Voraussetzungen sind natürlich, dass man ein Ziel vor Augen hat, eine Methode, wie ich dorthin gelange und eine Kontrolle und Rückmeldung sich darüber einholt, ob das Ziel auch erreicht wurde. Im Klassikbereich ist das häufig der Lehrer, aber ich kann sie mir auch selbst geben, indem ich mich aufnehme.
Der Begriff wurde in seiner Definition zwar auf den Klassikbereich gemünzt, was oft zu Missverständnissen geführt hat, aber eine "deliberate practice" sieht für den Rockschlagzeuger oder Organisten natürlich vollkommen anders aus. Wichtig ist: Spezifische Übungen, die auf eine Leistungsverbesserung abzielen und mit investierter Anstrengung/Konzentration verbunden sind.

Sprich, jede Form von Üben sollte im Idealfall "deliberate practice" sein?
Genau, im Grunde ist es "optimierte Übung".

Was entgegnen sie Musikern, die sagen "Mich stört diese eingeengte Struktur beim Üben, ich will da frei sein"?
Wenn wir finden, dass freies Spiel für Rock/Jazzmusiker prädiktiv für eine höhere Leistung ist, dann entspricht das ja dem Konzept der "deliberate practice".
 
Vielen Dank für die Veröffentlichungsgenehmigung durch das Musikerportal Bonedo und Autor Haiko Heinz!
 
 
Text von Isabelle 
 
 
 

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